Paul Auasenf

Auf der Treppe höre ich die ersten Schritte. Mein Gehör ist sehr gut geworden – ich achte auf jedes Geräusch und nehme es wahr. Das ist manchmal gut, manchmal schlecht. Am liebsten würde ich mich noch mal rumdrehen. So früh schon aktiv zu sein – daran bin ich nicht mehr gewöhnt. Aber gut, dieser Lehrgang ist mir wichtig. Außerdem möchte ich noch etwas abbekommen von dem schönen Frühstück und vor allem vom Kaffee. Ohne Kaffee geht gar nichts. Also stehe ich auf, versuche meine Orientierung in dem fremden Hotelzimmer zu finden und wach zu werden.

Im Speiseraum summen schon die Stimmen und die Worte wogen hin und her. Wo ist mein Tisch, mein Kaffee, meine Ruhe. Ich setze mich und hoffe auf eine kleine Atempause bevor der Tag richtig Fahrt aufnimmt. Nach dem Frühstück geht es in den Seminarraum und wir beginnen mit dem heutigen Lernprogramm. Unsere Seminarleiterin könnte ich wohl mit dem Begriff „hart aber herzlich“ beschreiben. Ihr Ziel ist, dass wir etwas lernen und ihre Methode ist die Strenge. Bei mir verfängt sowas. Gestern nach dem Abendessen habe ich noch mal wiederholt, was wir durchgenommen haben. Jede und jeder kommt dran, reihum. Und sie lässt nicht locker, es ist besser vorbereitet zu sein. Wir sind nur eine kleine Gruppe. Acht Personen, sechs Frauen, zwei Männer. Alle jenseits der 50, mit einer Ausnahme. Alexander ist erst 34 und schon nach einem Tag ist klar, er ist der Klassenprimus. Er lernt so schnell und ist dabei so entspannt, dass ich es quer über den Tisch spüren kann. Unser aller Anstrengung liegt in der Luft und ist greifbar. Nur Alexander scheint alles mit Links zu erfassen. Dabei ist unsere Aufgabe wirklich nicht leicht. Wir lernen etwas kennen (oder erkennen), mit dem wir buchstäblich noch nicht in Berührung gekommen sind. Der Eifer ist da und der Wunsch. Der Wunsch eine neue Möglichkeit zu erschließen. Es braucht viel Gefühl, Fingerspitzengefühl, Sensitivität. „Was fühlst du?“ fragt Frau Kraja, wenn wir feststecken. Alles eine Frage der Übung, der Geduld, Ausdauer ist gefragt. Es ist ungewohnt – aber wir wollen ja auch etwas Neues lernen, das uns neue Türen öffnen kann.

Der Tag vergeht, unterbrochen von einer kurzen Mittagspause. Alexander ist nicht alleine im Hotel, sondern mit seiner Familie. Seine Frau Lena und die beiden Kinder sind mit dabei und vertreiben sich die Zeit am Meer. Unser Hotel liegt ganz in der Nähe der Ostsee und bei dem rauen Wetter zurzeit hören wir das Rauschen der Wellen bis in den Seminarraum. Allen wird von der Konzentration heiß und wir öffnen häufig das Fenster. Ich würde jetzt auch gerne mit dem kleinen Paul am Strand eine Sandburg bauen. Paul ist drei Jahre alt und findet naturgemäß alles interessant und bekommt nie genug von neuen Eindrücken. Es ist schön, das mitzubekommen. Seine Schwester ist erst sechs Monate alt und heißt Josefine. Ein sehr ruhiges Kind. Manchmal hört man sie glucksen und gurgeln am Esstisch. Es sind mehr Laute der Zufriedenheit, wie es scheint.

Abends sitzen wir noch zusammen und loben uns gegenseitig, heben unsere Fortschritte hervor und ermutigen uns, dran zu bleiben. Eine ganze Woche ist schon anstrengend, auch für den kleinen Paul. Deshalb sind Lena, Josefine und Paul schon auf dem Zimmer. Paul redet nicht viel. Lena meint, das liegt auch an den vielen fremden Menschen, die ihn etwas überfordern, normalerweise plappert er mehr vor sich hin. Zum Beispiel wenn die Familie unter sich ist. Unsere kleine Gruppe löst sich auch bald auf – noch ein voller Tag und am Freitag ist dann Abschluss.

Beim nächsten Abendessen haben wir es fast geschafft. Es macht sich schon ein leichter Stolz breit und jeder und jede überlegt, wie es am nächsten Tag mit der Zugverbindung ist und laufen wird. Es gibt Würstchen und Kartoffelsalat, das ist auch etwas für Paul. Die Senftube mit dem Löwen macht die Runde und das ist offensichtlich neu. Die gelbe Farbe begeistert ihn und bevor Lena noch „Vorsicht!“ gerufen hat, steckt er seinen Finger mit einem dicken Klecks Senf in den Mund. Er reißt die Augen auf, fängt unmittelbar an zu weinen und ruft: „Paul Aua Senf!“ Paul sitzt an diesem Abend direkt neben mir und ich versuche natürlich ihn abzulenken und zu trösten. Er lässt sich gerne in den Arm nehmen und nach ein paar Schlucken Milch tut die Schärfe nicht mehr so weh. „Aua Senf.“ Das wird sicher so schnell nichts mehr mit Paul und der scharfen Paste. Lena fängt an zu erzählen, was sie tagsüber gemacht haben und die Tränen trocknen. „Paul, zeig doch mal der Uli, was du heute Schönes bekommen hast.“ Paul verschwindet sofort unter dem Tisch und kommt kurz darauf mit einem Gegenstand wieder hoch, den er auf den Tisch stellt. Er nimmt meine Hand und legt sie auf das kleine rote Spielzeugauto. So kennt er es von seinem Vater. Alexander ist blind, und wenn Paul ihm etwas zeigen möchte, nimmt er die Hände. Die eigenen, die von Alexander, und über Berührung und das Tasten begegnen sich ihre Welten. „Wie cool“ sage ich und schiebe das Auto hin und her. „Welche Farbe hat es?“ „Rot!“ ruft Paul, als hätte er es eigenhändig angemalt. Viel Berührung an diesem Abend. Diese Berührung, die ganze Woche über. Diese kleinen Braille-Punkte, die jetzt nach und nach ihre Bedeutung enthüllen und bald anfangen werden, Geschichten zu erzählen. Noch etwas Geduld und Ausdauer, sagt Frau Kraja.

Am nächsten Tag erhalten wir alle eine Urkunde: „Brailleschrift Lang- und Kurzschrift“. Wichtig für die Krankenkasse, wenn wir eine Tastatur mit Brailleschrift beantragen wollen. Noch viel wichtiger für jeden von uns. Vielleicht bekommt Paul Auasenf auch Lust diese Schrift zu lernen, wenn sein Vater ihm Märchen aus Braille-Büchern vorliest.

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