Blindflug

„Die wahren Abenteuer sind im Kopf.“ Dem Satz habe ich vor einigen Jahren noch zugestimmt. Aber ist das wirklich so – vielleicht eher: „Die wahren Abenteuer beginnen im Kopf“ oder, wie ich es heute sage: „Die waren Abenteuer beginnen im Bauch!“ Da, wo unsere Gefühle sitzen, die, die wir haben, und die, die wir vermissen. Wo unsere Wünsche sitzen, unsere Bedürfnisse und wo das, was wir brauchen, uns Signale gibt. Wenn die Gefühle, die Wünsche und Bedürfnisse alle dort stecken bleiben und nicht ins Leben dürfen, wird der Bauch gefühlt immer schwerer, so wie das Herz auch immer schwerer werden kann.

Mein Bauch hatte an Umfang verloren, als ob ich den Abenteuern die Luft abdrücken wollte und die Nahrung vorenthalten. Immer enger. So wie mein Blick im Laufe der Jahre immer enger geworden ist durch die Augenerkrankung Retinopathia pigmentosa (es wird auch Tunnelblick dazu gesagt). Wobei ich im Moment eher nur noch über einen Stecknadelkopf-Blick verfüge (spielt jemand Scrabble?).

Bei dieser Erkrankung der Netzhaut sterben die Sehzellen langsam ab, meist von außen nach innen. Es gibt auch andere Verläufe, die schneller vor sich gehen und viele Varianten dieser Erkrankung. Bei mir ging die Verschlechterung der Sehfähigkeit schubweise vor sich und hat mein Leben sehr verändert, mich auch innerlich eingeengt. Ich dachte: „Die wahren Abenteuer sind im Kopf“ und damit muss ich mich abfinden und zufriedengeben. Es gibt Menschen, die schwören auf Virtual Reality, und Wissenschaftler, die sagen, die Fantasie ist für das Gehirn (fast) genauso „spürbar“ wie die Realität. Sprich: Hormonausschüttung, Glücksgefühle etc. Ich steh total auf Wissenschaft, auf alles, was sie heute über den Menschen, das Weltall, die Zusammenhänge von allem mit allem herausfinden. Aber manchmal. . . Manchmal regt sich mein Widerstandsgeist. Ein Buch zu lesen ist etwas anderes, als sich vorzustellen, ein Buch zu lesen.

Ich kann keine Bücher mehr lesen. In den Urlaub zu fahren in eine fremde Stadt, ganz alleine, sie zu erkunden und zu erleben und kennen zu lernen, ist etwas anderes, als nur davon zu träumen und es sich in allen Farben auszumalen. Virtual Reality mag nah herankommen, aber ich bin ein Mensch und möchte mit all meinen Sinnen in der realen Welt das Leben fühlen. Nun ist aber einer meiner Sinne extrem eingeschränkt und kaum noch vorhanden. Aber das bisschen, was mir geblieben ist, ist noch eine Brücke zur Welt der Sehenden. Wenn sie abgebrochen wird, werde ich neue Wege finden.

Mein Mann ist vor elf Monaten und zwei Wochen gestorben. Es kam völlig überraschend für mich.

Den Urlaub hatte ich lange vorher gebucht. Und ich hatte total vergessen, ihn zu stornieren. – Irgendwas wehrt sich – und da ist der Weg!

Wieso stornieren? Also habe ich die Fahrt organisiert, mit Mobi-Unterstützung der Deutschen Bahn, die Koffer vorgeschickt und meinen weißen Langstock mit einer neuen Kugelspitze versehen.

Wenn es sich am Meer nicht gut anfühlt, wenn ich mich länger als zwei Tage einsam fühle, fahre ich wieder nach Hause. Woher soll ich wissen, ob ich soweit bin, ob etwas wieder meine Lebensgeister berührt, wenn ich nichts wage. Schritte. Schritte.

Auf das Meer ist Verlass. Es ist noch da und ich habe wie immer das Gefühl, es versteht mich und nimmt mich erstmal in die Arme. Am Tag meiner Ankunft ist es rau und unruhig – auch die Ostsee kann das.

Ich stehe am Strand und lasse los, was sich lösen will. Horizont und Himmel und Wasser gehen ineinander über, mein Herz klopft. Eine Frau spricht mich an, brauche ich Hilfe? Mein Blindenstock macht aufmerksam und suggeriert für viele, dass ich nicht allein zurechtkomme. Aber diese Art von Hilfe brauche ich gerade nicht. Wir unterhalten uns länger, lachen und freuen uns über die gute Luft hier oben. Atmen. Wir wünschen uns Glück und gehen unserer Wege. Schritte. Schritte.

In meinem Hotel finde ich „Menschen, die passen“. Wir sitzen beim Essen zusammen und haben eine Wellenlänge. Nach ein paar Tagen: Hast du gehört, Uli? Bei der letzten Motto-Woche waren die vom Gästeservice mit ein paar Leuten im Kletterwald. Klick. Resonanz. Die Höhe, der Abgrund, nichts sehen und doch weitergehen, ohne Boden unter den Füßen. Schritte. Schritte.

Hans arbeitet im Gästeservice. Hans, wann fahrt ihr wieder, wann ist die nächste Möglichkeit, ich komme auf jeden Fall mit, Hans – wann?

Mittwoch – Das kleine Hotel-Büschen ist startklar. Ich war sehr nervös in den letzten Tagen, jetzt fühle ich mich seltsam ruhig. Was soll mir passieren.

In der Nähe des Kletterwaldes machen wir einen Stopp und bummeln, gewissermaßen zum Aufwärmen, ein bisschen durch die Fußgängerzone der Stadt. Das Wetter lädt ein. Sie wollen in einen Souvenirladen. Ich werde ungeduldig, gehe aber mit. Ich kaufe ein rundes blau-weißes Kissen mit einem Anker-Motiv. Weiße, schmale Taue sind an den Seiten um das Kissen geführt – zum Festhalten. Alles zum Festhalten. Hans erklärt gut, geduldig, bildhaft. Er führt unsere kleine Gruppe zur Kasse. Mit unseren langen Stöcken und den Blinden-Buttons sehen wir anders aus. Dunkelhaarig, mit Jacke, ohne Jacke, schüchtern, blond, laut, buddhistisch, mit Brille, ohne Brille, korpulent, klein, Frau mit Migrationshintergrund, sprachbegabt, sportlich. Divers. Was ist die Norm – das dreiblättrige oder das vierblättrige Kleeblatt, das in unserer Kultur als Glückssymbol gilt. Wertung.

Wir warten, die Geräusche des Scanners. „20,17 €“ eine Stimme aus dem Off. Der Mann redet mit Hans. Toll, dass Sie das hier machen mit diesen Menschen. Respekt. Dann kommen die auch mal raus und erleben was. Zack. Ich möchte reagieren, aber ich habe heute ein wichtigeres Ziel und keinen Raum für Grundsatz-Diskussionen. Hans hat das Gespür für die Worte. „Ja,“ erwidert er, „ich habe einen Superjob! Bummeln, in den Kletterwald, anschließend Kaffee und Kuchen. Und das bei dem Wetter! Und ich kriege auch noch Geld dafür, Zeit mit diesen netten Leuten zusammen zu sein. Bringt richtig Spaß.“ Wir zahlen. Ich bin traurig. Wer sieht hier was nicht?

Mir fehlt

Mir fehlen die Augen
Dir fehlt das Verständnis

Mir fehlt eine Niere
Dir fehlt die Zeit

Mir fehlen IQ-Punkte
Dir fehlt die Fantasie

Mir fehlt Insulin
Dir fehlt der Zuckerguss über dem Alltag

Mir fehlt die Stimme
Dir fehlen die Worte

Mir fehlen die Beine
Dir fehlt der Boden unter den Füßen

Aber weiter, das Ziel wartet.
Perfektes Sommerwetter, trocken und sonnig. Die hohen Bäume des Kletterwaldes geben angenehmen Schatten. Stimmengewirr, viele Kinder, Juchzen und Schreien über unseren Köpfen. Da will ich hin. Nicht an diesen Ort, zu diesem Gefühl.

Anprobe der Sicherheitsausrüstung, Helm, Gurte und Karabinerhaken überall. Klick.

Mein Bauch und mein Herz ziehen in verschiedene Richtungen. Ich bin gesichert. Hans kommt direkt hinter mir. Er holt mich raus, wenn ich hängen bleibe, wenn ich abrutsche. Und wenn es zu viel ist, kann ich jederzeit abbrechen. Aber ich sehe die nächste Plattform, das Ziel gar nicht! Ich könnte abstürzen, mich verletzen. Ich gehe, ohne zu wissen wohin, irgendwo zwischen Himmel und Erde und Bäumen. Das kommt mir bekannt vor. Mut, Vertrauen, Abenteuer Leben, Abendteuer leben. Schritte. Schritte. Geht das?

Was trägt mich? Dafür habe ich kein Wort – aber ich gehe. Schritte. Schritte. Hans erklärt den Weg wie er ihn sieht. In meinem Kopf entsteht ein Bild. Wenn du die Arme nach oben streckst, fühlst du rechts und links Ringe, an denen du dich festhalten kannst. Schieb einen Fuß nach vorne, ein schwankendes Holzbrett, circa 10 cm breit und 30 cm lang. Es sind 14 Bretter für rechts und links. Die Plattform kommt in 8 m. Ich gehe. Schritte. Schritte. Ich höre seine Stimme im Hintergrund und taste mit Händen und Füßen, die Augen geschlossen. Unter mir die Welt, Lachen und Wortfetzen. Hier oben ist das schon weit weg. Viel Chemie schießt durch meinen Körper. – Aber das ist es nicht. Ich öffne kurz die Augen und sehe Licht durch das Blätterdach fallen: „There‘s a crack in everything, that’s how the light gets in.“ (Leonard Cohen aus „Ring the bells“, 1992)

Hans befestigt meinen Karabinerhaken an der Zipline, meine Hände zittern zu sehr. Spring Uli. Minutenlang kann ich mich nicht bewegen – ich fühle den Abgrund vor mir. Spring Uli. Du wirst gehalten. - Ich springe. Ich schreie. Blindflug.

Meine Füße landen weich. Auf der Plattform fängt eine Gummimatte den Stoß ab. „Läuft bei dir, Uli“, ruft Hans. Und ich höre seine Freude. Meine Lebensgeister lachen und applaudieren. Ich sehe vor meinem inneren Auge das Meer. Es nickt mir zu und sagt: Komm vorbei, davon musst du mir erzählen.

Abenteuer Leben.